Robert

Giraffe im Hansaviertel
Wer sich immer mal gefragt hat, warum das „Giraffenhaus“ heißt, wie es heißt, stellt sich am besten direkt davor. Der niedrige Vorbau, der hohe Wohnturm von 53 Metern, die Fassadenfarbe und die „Flecken“ der Balkone erwecken tatsächlich den Eindruck einer Giraffengestalt. 
Ganz oben, gewissermaßen im Kopf der Giraffe und mit einem ebenso weiten Rundumblick, lebt  Robert von Lucius. Ganz weltgewandter Herr, begrüßt er den jungen Interviewer John bei heißer Schokolade und Keksen und erzählt bereitwillig von seinem Leben und Wirken. Nach seinem langen Berufsleben als Journalist, das ihn in viele Länder der Erde geführt hat, ist er seit zehn Jahren wieder in seiner Geburtsstadt angekommen. 

„Ich bin Journalist und habe 32 Jahre bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gearbeitet. Als politischer Korrespondent war ich viele Jahre in Afrika, dann in Nordeuropa und in den baltischen Ländern. Seit neun Jahren bin ich im sogenannten Ruhestand, habe aber mit dem Schreiben nicht aufgehört.
Einen tollen Blick haben Sie hier! Ich kann mir vorstellen, dass es ein idealer Platz zum Schreiben ist: Zur einen Seite hin schauen Sie weit über die Baumwipfel des Tiergartens hinweg, zur anderen Seite haben Sie die Stadt. Und Sie überblicken das ganze Hansaviertel.
Ja, es ist ein schöner Arbeitsplatz. Hier schreibe ich – vor allem Bücher, etwa eins pro Jahr, meistens mit Berlinbezug. Es gibt einen Kneipenführer von mir, und vor einigen Jahren habe ich ein Buch mit Berliner Briefen aus den Jahren 1943/ 48 herausgegeben. Und noch immer schreibe ich für Zeitungen und Zeitschriften oder Artikel für Sammelbände.
Wie sind Sie denn im Giraffenhaus gelandet und warum ausgerechnet in das Haus?
2002/03 lebte ich im Ausland, in Stockholm und wollte unbedingt in Deutschland einen Zweitwohnsitz haben. Ich hatte keine Lust mehr, immer bei Anderen unterkommen zu müssen, und ich wollte meine eigenen Sachen um mich haben. Und klar war für mich: Ich gehe nach Berlin. Also habe ich meinen Makler angerufen. Der hatte zufällig am Abend vorher diese Wohnung hier angeboten bekommen – er hatte sie selbst noch gar nicht gesehen. Als ich sie anschaute, wusste ich sofort, das ist das Richtige für mich. Hier kann ich den Blick über ganz Berlin schweifen lassen. Ich war dann aber noch ein paar Jahre in Hannover, bevor ich hier richtig einziehen konnte, das war 2014.

Was ist das Besondere an diesem Haus? Und wie leben Sie hier?
An dem Haus ist vieles ungewöhnlich. Bis zum 16. Stock besteht es aus Einzimmerwohnungen, die alle ein bisschen unterschiedlich gebaut sind. Hier wohnen viele, die entweder nur unter der Woche da sind, oder nur am Wochenende. Es ist immer viel Bewegung im Haus. Trotzdem komme ich hin und wieder auch mit meinen Nachbarn ins Gespräch. 
Vor allem habe ich Platz für meine Bücher. Neben dem fantastischen Blick ist auch die Mischung aus Ruhe und innerstädtischer Anbindung besonders. Obwohl die Straße des 17. Juni direkt hier verläuft, kriege ich kaum etwas von dem Lärm und dem Trubel unten mit. Und wo hat man schonmal so viel Grün?!

„Obwohl die Straße des 17. Juni direkt hier verläuft, kriege ich kaum etwas von dem Lärm und dem Trubel unten mit. Und wo hat man schonmal so viel Grün?!“
Haben Sie einen Lieblingsort?
Die Tiergartenquelle! Da habe ich meinen 70. und auch den 75. gefeiert und werde dort jedesmal äußerst freundlich empfangen. Oft treffe ich mich dort mit Freunden. Sonst sieht es ja mit Kneipen und schönen Orten nicht so gut aus, vor allem, weil die „Giraffe“ unten geschlossen hat.*

Viele beklagen, dass das Hansaviertel verkommen würde, sehen Sie das auch so?
Ob es irgendwo ein bisschen schmuddeliger ist als sonst, ist mir relativ egal. Ich habe ein Drittel meines Lebens in Afrika gelebt. Ich kann Vieles verkraften, ich bin da locker.

„Bleibst du manchmal stehen, und liest die Inschrift auf einem der Stolpersteine auf dem Gehweg?“
Sie interessieren sich sehr für geschichtliche Themen, auch in Ihren Büchern. Wo heute das neue Hansaviertel ist, stand früher das alte Hansaviertel mit seinen prächtigen Gründerzeithäusern. Wie denken Sie darüber?
Ja, das Hansaviertel hat eine besondere geschichtliche Bedeutung. Und zwar durch den großen Anteil an Künstlern und Künstlerinnen und Intellektuellen und durch die jüdischen Menschen, die damals hier wohnten. Als Journalist beschäftigt mich das sehr. Übrigens hat auch Lenin hier in der Klopstockstraße mal gewohnt – illegal, versteht sich. 
Wie sieht es mit dir aus? Bleibst du manchmal stehen, und liest die Inschrift auf einem der Stolpersteine auf dem Gehweg? Ich finde es wichtig, an die Geschichte bis 1945 zu erinnern und zu fragen, warum sich die Dinge so oder so entwickelt haben. Ich bin nicht sicher, ob viele Jugendliche heute sich solche Fragen stellen. Das Hansaviertel war früher immerhin eine der aufregendsten, dichtbewohntesten und vielleicht auch geschichtsträchtigsten Ecken Berlins. Dass das alles weg ist, ist traurig. Insofern finde ich prima, dass Du dieses Interview mit mir führst.

Nachdem die Trümmer des alten Hansaviertels weggeräumt waren, kam die Zukunft: Halten Sie das Hansaviertel heute noch für zukunftsfähig?
Das Konzept des Hansaviertels ist bemerkenswert! Wenig Zäune, grüne Lockerheit und individuelle Baustile, trotz gleicher Bauzeit. Jedes Haus ist anders. Wenn ich sehe, wie viele Architekturstudenten und Architektinnen hierher kommen, um sich die Häuser anzugucken – auch bei mir hier oben –, merke ich, wie einzigartig das ist.
Was hier fehlt, ist Leben. Ich habe den Eindruck, dass die meisten Menschen hier eher der Generation 65 plus angehören. Das Bild der Jugend auf den Straßen vermisse ich. Es fehlt an Angeboten für Jugendliche wie Spielplätze oder Sportplätze oder andere Möglichkeiten. Würden nicht auch die Älteren dann wacher werden? Im Hansaviertel kenne ich keinen Ort, wo ich mit jüngeren Menschen ins Gespräch kommen könnte.

Besonders vermisse ich eine gute Bar mit Atmosphäre. Und am Hansaplatz selbst könnte es ein besseres Angebot an Supermärkten und anderen Läden geben. Aber was städtische Anbindung anbetrifft, öffentlicher Nahverkehr und Parkplätze, da ist das Hansaviertel absolut perfekt.

„Es geht darum, die Freude an Architektur und Denkmälern zu pflegen und gleichzeitig ein Bewusstsein dafür zu haben, was früher war und was sein kann.“
Positiv finde ich das Engagement der Vereine hier im Hansaviertel, dem Bürgerverein, dem interbau e.V. und anderen Vereinen wie dem Berliner Geschichtsverein**. Es geht darum, die Freude an Architektur und Denkmälern zu pflegen und gleichzeitig ein Bewusstsein dafür zu haben, was früher war und was sein kann. Ich habe das Gefühl, dass manche hier dieses Engagement nicht genügend zur Kenntnis nehmen.“

* Seit Herbst 2024 hat dort wieder ein neues Restaurant aufgemacht.
** Zwei der verdienstvollen Vereine, die sich um die lokale Geschichte bemühen, sind:
Geschichtswerkstatt Heimatverein Tiergarten und der Verein für die Geschichte Berlins.
Geschichtswerkstatt Heimatverein Tiergarten und der Verein für die Geschichte Berlins.

Geschichtswerkstatt Heimatverein Tiergarten und der Verein für die Geschichte Berlins.